1973 streikten in der BRD Tausende ausländische Beschäftigte, oft illegal und ohne die Gewerkschaften an ihrer Seite – eine Erfahrung, die einige migrantische Arbeiter:innen fünfzig Jahre später erneut machen.

«Als ich vom Ford-Streik 1973 gehört habe, dachte ich: Wow, die Geschichte wiederholt sich. Wir sind die Gastarbeiter 2.0»: Duygu Kaya, 35 Jahre alt, sitzt an einem verregnet-schwülen Tag Ende Juli in ihrer Kreuzberger Küche und zieht an einer Zigarette. Vor fünf Jahren kam sie aus der Türkei nach Berlin. Eigentlich Englischlehrerin von Beruf, landete sie wegen mangelnder Deutschkenntnisse schnell in einem «Kreislauf prekärer Jobs», wie sie es nennt. Im Sommer 2021 fing Kaya als Kurierfahrerin beim damals noch jungen Onlinelieferdienst Gorillas an. Nur wenige Monate später war sie eine der Sprecher:innen eines Arbeitskampfs an mehreren Gorillas-Standorten in der Stadt.

Ein sogenannter wilder Streik, wie Kaya und ihre fast ausschliesslich ebenfalls migrantischen Kolleg:innen schnell lernen mussten. «Wild» deshalb, weil er spontan und selbstorganisiert war – und illegal, denn in Deutschland gelten Streiks nur im Rahmen von Verhandlungen über Tarifverträge (das deutsche Pendant zu Gesamtarbeitsverträgen) und mit Unterstützung offizieller Gewerkschaften als zulässig. Diese Voraussetzungen aber waren beim erst Anfang 2021 gegründeten Start-up nicht gegeben. Und Zeit, erst Strukturen oder gar einen Betriebsrat aufzubauen, um etwas an den Arbeitsbedingungen zu ändern, war nicht.

«Es war ja nicht so, dass wir da die nächsten fünf Jahre bleiben wollten. Wir mussten sofort etwas tun. Deshalb haben wir gestreikt», sagt Kaya. «Vieles hat sich in den letzten fünfzig Jahren verändert: Die Arbeitsplätze, an denen Migrant:innen in Deutschland ausgebeutet werden, sind andere, die Anforderungen sind andere. Aber diesbezüglich waren wir in der gleichen Situation wie die Gastarbeiter 1973: Auch damals musste etwas passieren. Und die Gewerkschaften sahen das nicht.»

Doppelte Bestrafung

In der westdeutschen Arbeitskampfgeschichte war 1973 ein besonderes Jahr: Sogenannte Gastarbeiter:innen begehrten in etlichen Betrieben mit «wilden» Streiks gegen Akkordarbeit, schlechte Bezahlung, miese Wohnbedingungen oder Kündigungen auf. Von Februar bis Ende Oktober legten insgesamt 275 000 Beschäftigte in 335 Betrieben ihre Arbeit zeitweilig nieder – nicht nur, aber zu einem grossen Teil Migrant:innen.

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