Der Trend zu einer neuen Arbeitskampfkultur ist unverkennbar – ein unvollständiger Überblick über die Streiks der letzten Monate
llein bis Ostern 50.000 neue Mitglieder für ver.di: Die Zahl steht als Marker dafür, dass die Tarifauseinandersetzungen der letzten Monate tatsächlich ein neues Momentum in die deutsche Gewerkschaftsbewegung gebracht haben. Ob man gleich von einer »Zeitenwende« sprechen muss, wie der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, ist Geschmackssache. Womit Fratzscher recht hat: Die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich ungefähr seit der Corona-Krise zugunsten der Beschäftigten verschoben. Und denen ist ihre gewachsene Marktmacht sehr bewusst, sie machen davon Gebrauch – nicht nur, aber auch indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und streiken. Angesichts der im vergangenen Jahr rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten liegt das ja auch nahe.
Vor diesem Hintergrund trafen in den ersten Monaten dieses Jahres mehrere große und ein paar kleinere Tarifbewegungen zusammen. Einige Tarifrunden sind abgeschlossen, andere dauern an. Die größte und bedeutendste ist die seit Jahreswechsel rollende Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat; 200 Euro mehr und eine unbefristete Übernahmegarantie für Azubis bei einer Laufzeit von zwölf Monaten – das hatte die ver.di-Bundestarifkommission im Oktober beschlossen. Es geht um 2,5 Millionen Tarifbeschäftigte beim Bund, in Städten und Gemeinden.
Dass die Forderung so ambitioniert ausfiel, lag vor allem daran, dass ver.di eine breit angelegte Mitgliederbefragung zur Forderungshöhe organisiert hatte. Und die lief über den Sommer und Herbst, unter dem Schock einer galoppierenden Inflation, wie man sie in Deutschland lange nicht erlebt hatte. Die Befragung diente aber nicht nur der Forderungsfindung, sondern auch der Mobilisierung und Organisierung. An die 335.000 Beschäftigte erklärten laut ver.di in lokalen und betrieblichen »Stärketests«, dass sie die Forderungen unterstützen und auch bereit seien, dafür in den Streik zu treten.
Arbeitgeber*innen-Angebot: zu wenig
Tatsächlich kam es dann ab Januar zu massiven Warnstreiks, im Vorfeld und parallel zu den drei Verhandlungsrunden in den ersten drei Monaten des Jahres. Mehr als eine halbe Million Kolleg*innen beteiligten sich bundesweit nach Angaben der Gewerkschaft.
Ein Kompromiss kam nicht zustande. Die Arbeitgeber*innen legten zwei Angebote vor: Das letzte, verbesserte Angebot von Ende März sah einen Mindestbetrag von monatlich 300 Euro und eine Laufzeit von 24 Monaten vor. Dazu sollte eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro, zahlbar in zwei Teilbeträgen sowie eine nicht bezifferte prozentuale Erhöhung kommen. Aus ver.di-Sicht hätte das Angebot insbesondere für die unteren und mittleren Entgeltgruppen die Kaufkraft nicht gesichert. Folgerichtig erklärte die Gewerkschaft die Verhandlungen für gescheitert, und die Arbeitgeber*innen riefen die Schlichtung an. Die ist nach einer 2011 geschlossenen Schlichtungsvereinbarung verpflichtend, wenn eine Tarifpartei sie verlangt. Während der Schlichtung gilt Friedenspflicht.